Der Autor dieser Geschichte vom “Der Mond der Prinzessin Leonore” ist James Thurber
[Der Amerikaner James Thurber (geboren 1894, gestorben 1961) war Journalist, Dichter und Zeichner. Lange Jahre war er freier Mitarbeiter an der weitverbreiteten Zeitschrift „The New Yorker“. Mit seinen humoristischen Geschichten und Zeichnungen stellt er Auswüchse des modernen Lebens bloß. Nach mehreren seiner Bücher wurden Filme gedreht. Die Amerikaner sagen, dass er ihnen das Lachen wieder geschenkt habe.]

Diese Geschichte ist meine Lieblingsgeschichte in der Mentaltrainer-Ausbildung. Sie ist zwar etwas lang, jedoch sagt so viel aus und ist wunderschön.

Doch, lesen Sie selbst …

Es war einmal ein Königreich, das lag am Meer, und dort lebte eine kleine Prinzessin namens Leonore.

Sie war zehn Jahre alt und ging ins Elfte. Eines Tages wurde Leonore krank; sie hatte zu viel Himbeertorte gegessen und musste das Bett hüten. Der königliche Leibarzt wurde gerufen, um nach ihr zu sehen. Er maß ihre Temperatur, fühlte ihren Puls und ließ sich die Zunge zeigen. Er wurde sehr besorgt und schickte nach dem König, Leonores Vater. Der König kam auch gleich, um zu sehen, wie es mit der Prinzessin stand. „Ich will dir alles geben, was dein Herz nur wünschen kann“, sagte der König zur kleinen Leonore. „Gibt es etwas, wonach dein Herz begehrt?“ „Ja“, sagte die Prinzessin, „ich möchte gern den Mond haben. Wenn ich den Mond habe, werde ich gleich wieder gesund.“

Darauf ging der König zum Thronsaal und läutete dreimal lang und einmal kurz, und sofort trat der Oberhofmarschall in den Saal. Er war ein großer, dicker Mann mit einer großen Brille, die seine Augen zweimal so groß erscheinen ließ, wie sie wirklich waren. Infolgedessen schien hin wiederum der Oberhofmarschall zweimal so weise zu sein, wie er wirklich war.

„Ich wünsche, dass du der Prinzessin Leonore den Mond verschaffst“, sagte der König. „Wenn sie den Mond bekommt, wird sie wieder gesund. Besorge ihn noch heute Abend, aber allerspätestens morgen!“ Der Oberhofmarschall wischte sich mit seinem Taschentuch die Stirn ab und schnäuzte sich vernehmlich die Nase. „Ich habe, seit ich euch diene, eine Menge für euch besorgt, eure Majestät“, sagte er. „Es trifft sich zufällig, dass ich eine Liste davon bei mir habe.“ Er zog eine lange Pergamentrolle aus der Tasche. „Lasst mich sehen.“ Er schaute mit gerunzelter Stirn in die Liste. „Ich habe euch Elfenbein, Affen und Pfauen verschafft; Rubine, Opale und Smaragde; schwarze Orchideen, rosafarbene Elefanten und blaue Pudel; Kolibrizungen, Federn von Engelflügeln; Riesen, Zwerge und Seejungfrauen; …“

„Das macht nichts“, unterbrach ihn der König, „was ich jetzt brauche, ist der Mond.“

„Der Mond“, sagte der Oberhofmarschall, „kommt leider nicht infrage. Er ist 35.000
Meilen entfernt und größer als das Schlafzimmer der Prinzessin. Außerdem ist er aus
geschmolzenem Kupfer gemacht. Ich kann ihn euch nicht herbeischaffen, Majestät. Blaue Pudel jawohl! Den Mond – nein!“ Da geriet der König in Wut, hieß den Oberhofmarschall den Saal verlassen und den königlichen Zauberer zu sich kommen.

Der königliche Zauberer war ein kleiner, schmächtiger Mann mit einem länglichen Gesicht. Er trug einen hohen, roten, spitzen Hut, der mit Silbersternen besetzt war, und eine lange blaue Robe, über und über mit goldenen Eulen bestickt. Er wurde recht blass, als ihm der König sagte, dass er für sein Töchterchen den Mond brauche und dass er von ihm, dem Königlichen Zauberer, erwarte, er könne ihn beschaffen.

„Ich habe in meiner Amtszeit eine ganze Menge für euch gezaubert, Majestät“, sagte er.
„Zufällig habe ich in meiner Tasche eine Liste von all den Zaubereien, die ich für euch ausgeführt habe. Lasst mich mal sehen. Ich habe für euch Blut aus Steckrüben gequetscht und Steckrüben aus Blut. Ich habe Kaninchen aus Zylinderhüten gezaubert und Zylinderhüte aus Kaninchen. Ich habe aus nichts Blumen, Tambourins und Tauben gezaubert und dann wieder nichts aus Blumen, Tambourins und Tauben. Ich habe euch ‘Wünschelruten, Zauberstäbe und Kristallkugeln verschafft, um darin die Zukunft zu schauen. Ich versah euch mit Siebenmeilenstiefeln und mit einer Tarnkappe …“

„Die Tarnkappe funktionierte aber nicht“ fiel der König ein, „ich bin damit genau wie vorher überall angestoßen.“

„Was ich jetzt von dir wünsche, ist allein der Mond“, sagte der König. „Die Prinzessin wünscht ihn, und wenn sie ihn bekommt, wird sie gleich wieder gesund.“

„Den Mond kann niemand bekommen“, sagte der königliche Zauberer. „Er ist 150.000
Meilen entfernt und aus grünem Käse gemacht. Außerdem ist er zweimal so groß wie
euer ganzer Palast.“

Wieder geriet der König in großer Sorge und schickte den königlichen Zauberer zurück in seine Zauberhöhle.

Dann befahl er, den königlichen Mathematiker vorzuladen, einen kahlköpfigen, kurzsichtigen Mann mit einer Haube auf dem Kopf und einem Federhalter hinter dem Ohr. „Ich will keine lange Liste vorgelesen bekommen von allem, was du seit 1907 für mich ausgerechnet hast“, sagte der König zu ihm, „ich will von dir hier auf der Stelle ausgerechnet haben, wie man den Mond für die Prinzessin Leonore beschaffen kann.“ „Ich freue mich ja so, Majestät, dass Ihr an all das denkt, was ich für euch seit 1907 ausgerechnet habe“, sagte der Königliche Mathematiker. „Rein zufällig habe ich eine Liste davon bei mir. Ich habe euch die Entfernungen zwischen Tag und Nacht sowie zwischen A und Z errechnet. Ich habe überschlagen, wie weit aufwärts liegt, wie lange es währt, um nach Hinweg zu kommen, und was aus Vergangen wird. Ich weiß, wie viel ichs Ihr haben müsst, um ein Wir auszumachen, und wie viel Vögel Ihr mit dem Salz des Ozeans fangen könnt. Nebenbei: 187.796.132, wenn es euch interessieren sollte.“

„So viel Vögel gibt‘s ja gar nicht“, sagte der König, „und überhaupt: was ich jetzt brauche, ist der Mond.“

„Der Mond ist 300.000 Meilen entfernt“, sagte der Königliche Mathematiker. „Er ist rund und flach wie eine Münze, nur dass er aus Asbest gemacht ist; er ist halb so groß wie euer ganzes Königreich. Überdies ist er am Himmel festgeklebt. Den Mond kann niemand herunterholen.“ Der König geriet in eine noch größere Wut und schickte den königlichen Mathematiker wieder fort.

Dann läutete er dem Hofnarren. Der kam in den Saal gesprungen, mit seiner Kappe und den kleinen Glöckchen daran, und ließ sich am Fuß des Thrones nieder.

„Was kann ich für euch tun, Majestät?“

„Die Prinzessin Leonore möchte den Mond haben“, sagte der König traurig, „und sie kann nicht wieder gesund werden, ehe sie ihn bekommen hat. Aber niemand kann ihn ihr holen. Jedes Mal, wenn ich jemand um den Mond bitte, wird er größer und entfernter. Du kannst nichts für mich tun – höchstens auf deiner Laute spielen; aber möglichst etwas Trauriges.“

„Wie groß, sagen sie, ist der Mond und wie weit entfernt?“, fragte der Hofnarr.
„Der Oberhofmarschall behauptete, er sei 35.000 Meilen entfernt und größer als das
Zimmer der Prinzessin Leonore“, sagte der König, „der königliche Zauberer sagt, er sei 150.000 Meilen entfernt und zweimal so groß wie dieser Palast. Der königliche Mathematiker sagt, er sei 300.000 Meilen entfernt und halb so groß wie das ganze Königreich.“

Der Hofnarr zupfte eine Weile auf seiner Laute. „Sie sind alle drei sehr gelehrt, und es ist klar, dass sie alle drei recht haben. Wenn sie alle drei recht haben, dann muss der Mond genauso groß sein und so weit entfernt, wie jeder denkt. Man braucht also bloß die Prinzessin Leonore zu fragen, was sie denkt, wie groß der Mond sei.“

„Daran hätte ich nie gedacht“, erwiderte der König.

„Ich will zu ihr gehen und sie fragen, Majestät.“

Die Prinzessin Leonore freute sich, den Hofnarren zu sehen, aber ihr Gesicht war sehr blass und ihre Stimme war sehr schwach.

„Hast du mir den Mond mitgebracht?“, fragte sie. „Noch nicht“, sagte der Hofnarr, „aber ich bin gerade dabei, ihn dir zu holen. Was denkst du, wie groß er wohl sein könnte?“ „Er ist ein wenig kleiner als mein Daumennagel“, sagte sie, „denn wenn ich meinen Daumennagel gegen den Mond halte, deckt er ihn gerade zu.
„Und wie weit ist er entfernt?“, fragte der Hofnarr.

„Er hängt nicht ganz so hoch, wie der dicke Baum vor meinem Fenster groß ist“, sagte die Prinzessin, „denn manchmal bleibt er in seinen höchsten Zweigen hängen.“ „Ich will heute Nacht auf den Baum klettern, wenn der Mond in den oberen Zweigen hängt, und ihn dir herunterholen“, sagte der Hofnarr. Dann fiel ihm etwas anderes ein. „Woraus ist eigentlich der Mond gemacht, Prinzessin?“, fragte er.

„Oh, natürlich ist er aus Gold, du Dummkopf“, sagte sie. Der Hofnarr ging zum königlichen Goldschmied und ließ bei ihm einen niedlichen runden, goldenen Mond anfertigen, gerade ein wenig kleiner als der Daumennagel der Prinzessin Leonore. Dann wurde der goldene Mond an einer goldenen Kette befestigt, damit die Prinzessin ihn als Halsschmuck tragen konnte.

„Was ist das eigentlich, was ich da machen musste?“, fragte der königliche Goldschmied. „Ihr habt den Mond gemacht“, sagte der Hofnarr. „Das ist der Mond.“ „Aber der Mond“, sagte der königliche Goldschmied, „ist 500.000 Meilen entfernt, ist aus Bronze und rund wie eine Kugel.“

„Das denkst du“, sagte der Hofnarr und ging mit dem Mond seiner Wege. Der Hofnarr brachte den Mond der Prinzessin, die überglücklich war. Tags darauf war sie wieder gesund, konnte aufstehen und im Garten spielen.

Aber der König wusste, dass der Mond am selben Abend wieder am Himmel aufgehen würde, und wenn die Prinzessin ihn sähe, würde sie merken, dass der Mond an ihrer Halskette nicht der echte war. So sagte er zum Oberhofmarschall: „Wir müssen verhindern, dass die Prinzessin heute Abend den Mond sehen bekommt. Denk dir etwas aus!“

Der Oberhofmarschall legte den Zeigefinger an die Stirn. „Wir könnten für die Prinzessin eine schwarze Brille bestellen.“

Aber über diesen Vorschlag wurde der König sehr unwillig. „Wenn sie eine schwarze Brille trägt, wird sie überall anstoßen und dann wieder krank werden!“
So berief er den Königlichen Zauberer zu sich, der erst auf den Händen lief, dann auf dem Kopf stand und schließlich wieder auf seine Füße zu stehen kam. „Ich weiß, was wir tun könnten“, sagte er. „Schwarze Samtvorhänge aufhängen, um alle Gärten um den Palast wie ein Zirkuszelt zu überdachen.“ Da wurde aber der König so wütend, dass er mit beiden Armen in der Luft herumfuchtelte. „Schwarze Vorhänge halten die frische Luft ab, und die Prinzessin würde wieder krank werden.“ Er befahl, den Königlichen Mathematiker zu holen.

Der königliche Mathematiker schritt im Kreise herum und dann im Viereck, und dann stand er still. „Ich hab‘s“, sagte er, „wir könnten jede Nacht im Garten ein Feuerwerk abbrennen. Wir wollen eine Menge Leuchtfontänen aus Silber machen und Wasserfälle aus Gold. Wenn sie dann verpuffen, wird der Himmel mit so vielen Funken bedeckt sein, dass er taghell erleuchtet ist und die Prinzessin den Mond nicht sehen kann.“ Jetzt geriet der König in einen solchen Zorn, dass er einen Luftsprung machte. „Das Feuerwerk würde die Prinzessin am Einschlafen hindern, und sie würde wieder krank werden.“ So schickte er den Königlichen Mathematiker ebenfalls wieder fort.

Als der König aus dem Fenster blickte, war es draußen dunkel geworden, und der leuchtende Rand der Mondscheibe lugte gerade über den Horizont.

Voller Schrecken sprang er auf und klingelte nach dem Hofnarren. „Spiel mir etwas sehr, sehr trauriges“, sagte der König, „denn wenn die Prinzessin den Mond draußen sieht, wird sie wieder krank.“

Der Hofnarr zupfte auf seiner Laute. „Was sagen eure klugen Gelehrten dazu?“
„Ihnen fällt nichts ein, um den Mond zu verstecken als, was die Prinzessin wieder krank machen würde“, sagte der König.

Der Hofnarr spielte leise eine andere Melodie. „Wenn eure Gelehrten den Mond nicht verstecken können, dann kann er nicht versteckt werden“, sagte er. „Aber wer wusste zu sagen, wie man den Mond bekommen kann? Das war die Prinzessin Leonore! Daher ist die Prinzessin Leonore klüger als eure Gelehrten und weiß vom Monde mehr als sie. Also will ich die Prinzessin fragen!“

Und ehe der König ihn zurückzuhalten vermochte, glitt er still aus dem Thronsaal und hinauf über die Marmortreppe ins Schlafzimmer der Prinzessin. Sie war schon zu Bett gegangen, aber noch ganz wach und schaute aus dem Fenster zum Himmel, wo leuchtend der Mond stand. In ihrer Hand glänzte der Mond, den ihr der Hofnarr gebracht hatte. Dieser schaute sehr bekümmert drein, und in seinen Augen schienen Tränen zu schimmern.

„Sag mir nur, Prinzessin Leonore“, fragte er kläglich, „wie kann der Mond am Himmel scheinen, wenn er doch um deinen Hals an einer goldenen Kette hängt?“ Die Prinzessin blickte ihn an und lachte. „Das ist nicht schwer, du Dummkopf“, sagte sie. „Wenn ich einen Zahn verliere, wächst ein neuer dafür, nicht wahr? Und wenn der Gärtner im Garten Blumen schneidet, blühen andere Blumen an ihrer Stelle auf.“ „Daran hätte ich selbst denken können“, sagte der Hofnarr, „das ist ja dieselbe Geschichte wie mit dem Tageslicht.“

„Und mit dem Monde ist es auch dieselbe Geschichte“, sagte die Prinzessin Leonore. „Ich denke, das ist mit allem dieselbe Geschichte.“

Ihre Stimme wurde ganz leise und verlor sich allmählich, und der Hofnarr merkte, dass sie eingeschlafen war. Behutsam schob er ihre Kissen zurecht. Aber ehe er das Zimmer verließ, ging er hinüber ans Fenster und zwinkerte zum Mond hinauf, denn es schien dem Hofnarren, als ob der Mond ihm zugezwinkert habe.

Und was denken Sie?

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